SICHTBAR – Der Podcast: Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte
Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte – Mehr Selbstständigkeit als Ziel
Die meisten Menschen, die blind sind oder eine Sehbehinderung haben, haben diese im Laufe ihres Lebens erworben. Grund sind in der Regel Unfälle oder Krankheiten. Auch im Alter kann das Sehvermögen deutlich abnehmen. Viele Menschen haben vor allem Angst vor einer Sehbehinderung, weil sie fürchten, dann permanent auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Das muss aber nicht so sein. Mit speziellen Techniken zur Orientierung und im Alltag können auch blinde oder stark sehbehinderte Menschen selbstständig einen Großteil ihres Alltags koordinieren.
Aber wie erlernt man diese Techniken? Für diese Podcastfolge haben wir ausführlich mit einer Rehalehrerin gesprochen. Ulrike Schade ist spezialisiert darauf, sehbehinderten oder blinden Menschen Techniken zur Orientierung – wie Beispielswiese die Stocktechnik – oder auch Techniken zur Bewältigung von Alltagsaufgaben, wie Wäsche waschen, putzen oder kochen zu zeigen. Das erklärte Ziel ist immer: mehr Selbstständigkeit und Selbstvertrauen. Diese Folge wurde im Rahmen der Woche des Sehens 2024 veröffentlicht. Die Aufzeichnung erfolgte bereits im Mai 2022.
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Durch Zufall zur Berufung
Ulrike Schade ist eine von vier Rehalehrerinnen und -lehrern für Blinde und Sehbehinderte in Leipzig und unterrichtet zwei Fächer. Erstens Orientierung und Mobilität und zweitens LPF, was übersetzt „Lebenspraktische Fähigkeiten“ bedeutet. Die ausgebildete Erzieherin hatte zu DDR-Zeiten mit Jugendlichen im Leistungssport-Bereich gearbeitet. Nach dem Ende der DDR wurde die Arbeit hier weniger, an anderer Stelle mehr. „Die waren zufällig im selben Haus“, erzählt Schade und meint damit die Kinder der Blindenschule Wladimir-Filatow zu Leipzig. Kurzum fing sie als Erzieherin und Unterrichtshilfe dort an und machte später an der Blindenstudienanstalt (BLISTA) in Marburg ihre Ausbildung zur Rehalehrerin: „Der Gedanke, individuell mit Leuten zu arbeiten und vielleicht dabei mehr zu erreichen als mit einer Gruppe hat mich gereizt“. Im Podcast erzählt Ulrike Schade lebhaft über ihre ersten Erlebnisse mit den blinden oder sehbehinderten Kindern an der Wladimir-Filatow-Schule.
Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte – drei Teilbereiche
Als wichtigen Teil ihrer Ausbildung benennt Ulrike Schade die Selbsterfahrung bzw. den fachspezifischen Unterricht, wie sie es nennt. Alles, was vermittelt wird, musste sie auch selbst unter einer Augenbinde erproben. Zur Ausbildung gehörte außerdem das Erlernen der Systematik für die Blindenschrift mit Abschlussprüfung eines Blindenschrift-Diktats.
In der Ausbildung der Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte gibt es drei Fachbereiche, von denen einer bis alle drei gewählt werden können:
1. Orientierung und Mobilität
Dieser Fachbereich wird von den allermeisten Rehalehrern bedient, weil er die Grundlage für nahezu alle blinden und sehbehinderten Menschen bildet. Zu den Inhalten gehören unter anderem: Techniken mit dem Blindenlangstock, Themen wie Stockauswahl und auch welche Informationen der Stock übermittelt. Außerdem das Kennenlernen von Leitsystemen, Ampelsignalen und sonstigen Besonderheiten im Straßenverkehr, wie etwa verschiedener Bahnhaltestellen. Man lernt auch, seine Umwelt bewusster mit allen Sinnen, die zur Verfügung stehen, wahrzunehmen. Oder wie man Gefahrensituationen beispielsweise im Straßenverkehr vermeidet, Rolltreppen erkennt und hört und vieles mehr.
2. EDV-Technik
Der Umgang mit Computertechnik, Smartphones, elektronischer Sprachausgabe, Tabellen- und Website-Funktionen wird immer wichtiger. Auch hierfür gibt es Spezialisten unter den Rehalehrern für blinde und sehbehinderte Menschen. Die Computertechnik hat für blinde und sehbehinderte Menschen in den letzten Jahren einiges an Erleichterungen und Möglichkeiten bereitgehalten.
3. „LPF“ – Lebenspraktische Fähigkeiten
„LPF ist sehr vielfältig und für mich der spannendere Bereich – es geht mehr ans Eingemachte“ sagt Ulrike Schade. Hinter dem sperrigen Begriff „Lebenspraktische Fähigkeiten“ verbirgt sich in der Tat ein Sammelsurium an teilweise sehr individuellen Wünschen blinder oder sehbehinderter Menschen: „LPF ist von der Herangehensweise eher so, dass die Leute sagen: ‚Ich habe eine Problem dort und dort’. Und dann schaut man, wo kann man das machen, damit es besser geht, brauche ich ein anderes Utensil und eine andere Handhabe“. Themenbereiche sind unter anderem:
- Kochen, Essen, Eingießen, Essenszubereitung (zum Beispiel Brötchen aufschneiden, Brot schmieren)
- Körperpflege, bspw. das Dosieren von Pflegeprodukten (wie bekomme ich meine Zahnpasta so auf die Zahnbürste, dass sie darauf bleibt und es nicht zu wenig oder zu viel ist) oder auch Schminken und Nähen
- Wäsche sortieren, waschen, Wäsche stapeln
- Wohnung säubern
- Geld erkennen und unterscheiden und vieles mehr
Typischerweise beschreibt Schade folgende Situation: „Viele Leute trauen sich bestimmte Dinge am Anfang gar nicht erst zu, merken dann aber erst was geht und was man alles vielleicht noch gerne lernen würde.“ Das Ziel ist immer, ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zu erreichen. Dabei gehört natürlich eine gewisse Offenheit seitens der blinden und sehbehinderten Kunden dazu. Die Anzahl der Arbeitsstunden muss übrigens beantragt werden und wird von der Krankenkasse festgelegt. Wie viele Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte arbeitet die gebürtige Zittauerin freiberuflich und rechnet ihre Leistung dann bei der Krankenkasse ab.
Streitthema: Der schmale Grat der medizinischen Rehabilitation
Die deutschen Krankenkassen bezahlen in erster Linie Arbeitsstunden, die in den Bereich der sogenannten „medizinischen Rehabilitation“ fallen. Hierüber gibt es immer wieder Diskussionen. Wesentlich seltener übernommen werden nämlich Arbeitsstunden, die als sogenannte Soziale Rehabilitation klassifiziert werden.
Unstrittig ist, dass jeder sehbehinderten oder blinden Person die Einweisung in den Gebrauch des Langstocks und damit ein Mobilitätstraining zusteht. Anders sieht das bei LPF aus. Von den Krankenkassen i. d. R. als soziale Rehabilitation eingeordnet, fällt die Bewilligung von Stunden in den Bereich der jeweiligen Sozialämter, deren Mitarbeitende häufig wenige Kenntnisse zu diesem Thema haben und Bedarfe deshalb schwer einschätzen können. Da es hier häufig um Einzelfallprüfungen geht, könne es durchaus sein, dass ein Antrag bis zur Bewilligung ein dreiviertel bis zu einem Jahr dauert, so Schade. „Für mich ist das unterlassene Hilfeleistung“, wird sie deutlich „vor allem, wenn Leute frisch erblindet sind, die auf einmal das Gefühl haben, sie können überhaupt nichts mehr. Die hängen dann in der Luft. Das finde ich ganz furchtbar.“
Ein weiteres Thema in diesem Zusammenhang: Rehalehrerinnen und -lehrer sind an manchen Stellen auch Stellvertreter für blinde oder erblindende Personen. Wichtig sei aber auch, sich bewusst zu machen: „Der Leistungsberechtigte ist die blinde Person. Der Druck auf die Ämter muss natürlich auch von der blinden Person kommen.“
Nachwuchs dringend gesucht
Im Mai 2022, als wir das Interview geführt haben, waren etwa 220 bis 230 Mitglieder im Berufsverband der Rehalehrer für Blinde und Sehbehinderte. Geht man davon aus, dass es noch einige gibt, die nicht im Berufsverband organisiert sind, ergeben sich laut Schades Schätzung etwa 250 bis 300 Personen deutschlandweit, die sehbehinderte und blinde Menschen im Bereich Mobilität, LPF und EDV unterstützen. Bei geschätzten 700.000 blinden und stark sehbehinderten Menschen in Deutschland (der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband geht noch von deutlich höheren Zahlen aus), braucht kaum erklärt werden, wie wichtig es schon heute aber auch in Zukunft sein wird, neue Rehalehrerinnen und -lehrer zu gewinnen.
Zugangsvoraussetzungen sind eine Ausbildung mit didaktischem Hintergrund, woran sich eine zusätzliche Qualifikation bspw. an der BLISTA in Marburg anschließt. Interessierte können sich jederzeit gerne zur Beratung an den Bundesverband der Rehabilitationslehrer /-lehrerinnen für Blinde und Sehbehinderte e. V. wenden.
wenden, der nicht nur berät, wie man Rehalehrer für blinde und sehbehinderte Menschen werden kann, sondern auch regelmäßig Fortbildungen anbietet. Der Job ermöglicht das freiberufliche Arbeiten. Somit kann die Arbeitszeit frei eingeteilt werden, was heutig häufig formulierten Ansprüchen an einen Job eigentlich entgegenkommt. Außerdem verbindet der Beruf als Rehalehrerin oder -lehrer kreatives und praktisches Arbeiten mit dem teilweise sehr direkten Kontakt zu Menschen. Es handelt sich um eine sehr kommunikative Arbeit, bei der Erfolge und Ergebnisse spürbar sind und nachhaltig auf das Leben der blinden und sehbehinderten Menschen wirken können.
Wir sprechen in unserem Podcast „SICHTBAR“ mit Menschen über Inklusion und Barrierefreiheit. Wir porträtieren Menschen mit Behinderung, weil wir mehr über ihr Leben, die Schwierigkeiten, aber vor allem auch die Möglichkeiten wissen möchten. Dabei sind wir jederzeit auch offen für Feedback zu neuen Interview-Gästen. Schreibt uns euer Feedback und Vorschläge gerne per Mail an sichtbar@hoermal-audio.org. SICHTBAR – Der Podcast wird von HörMal Audiodeskription in Kooperation mit dzb lesen herausgegeben.