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SICHTBAR-Podcast: „Allen war schnell klar: Blind ist nicht gleich blöd.“

Ein blinder Lehrer erzählt – „Allen war schnell klar: Blind ist nicht gleich blöd.“

2019 erschien ein Buch mit dem Titel „Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten“, geschrieben von Jutta Hajek. Portraitiert wurde Familie Müller, in der nicht nur der Vater und die Mutter, sondern auch die beiden Söhne augenkrank und blind sind. Heute arbeiten die beiden Kinder erfolgreich als Lehrer bzw. Priester, doch auf dem langen Weg dorthin hatte die Familie viele Hürden zu meistern. Über die Geschichte der Familie redet Constantin Sträter SICHTBAR – Der Podcast mit Christof Müller, einem der beiden Söhne der Familie.

Eine Portraitaufnahme von Christof Müller. Er trägt eine blaue Strickjacke und hat seine Arme vor dem Körper verschränkt. Seine grauen Haare sind zu einem Scheitel frisiert, Foto: Christof Müller.
Christof Müller hat mit uns über seine Lebensgeschichte und seinen Beruf als Lehrer in Marburg gesprochen, Fotorechte: Christoph Müller.

Transkript zur Folge: Ein blinder Lehrer erzählt (PDF)

„Es hieß noch nicht so, aber eigentlich wurde meine Mutter inklusiv beschult“

Eine latente Gefahr für die Eltern bestand in deren Kindheit immer. Sie wurden beide 1937 geboren und im dritten Reich drohte ihnen schlimmstenfalls das Euthanasie-Programm der Nazis. Und so kam auch eines Tages die Gestapo bei Familie Müller vorbei. Sie hatten den Hinweis bekommen hatten, dass sich in der Familie ein blindes Kind befindet. Die sechsjährige Marie Müller konnte schnell fliehen und sich so retten. Ansonsten existierte in ihrem Dorf ein großer solidarischer Geist. Ihr Lehrer setzte sie in die erste Reihe und die Mitschüler*innen halfen ihr, wenn Marie Müller gerade einmal Unterstützung brauchte. Auch wenn es nicht so genannt wurde, hat damals bereits eine ganz praktische Form der Inklusion stattgefunden. 

„Mein Bruder ist nicht nur mein Bruder, sondern eigentlich auch mein bester Freund“

Marie Müller lernte später ihren Mann kennen und bekam zwei Kinder mit ihm, die beide ebenfalls blind waren: Christof und Stefan. Bei der Bewältigung der vielen Herausforderungen haben Christof Müller und seiner Familie zwei Dinge immer geholfen: Der christliche Glaube und der Zusammenhalt in der Familie. Aus dem christlichen Glauben erwuchs die große Zuversicht, die Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können. „Ich habe auf Gott vertraut, dass Gott, wenn ich mich anstrenge, schon helfen und mir einen Weg aufzeigen wird. Ich habe die Erfahrung gemacht, in schier ausweglosen Situationen kam immer irgendwo Hilfe her. Das hat mich geprägt“, sagt Christof Müller.

Eine grauhaarige mit Blindenstock, blauer Hose und rotem Oberteil steht neben zwei mittelalten Männern, die beide dunkle Hosen und dazu ein weißes Hemd tragen. Sie alle stehen vor einem doppelflüggen Holztor mit metallnen Türbeschlägen. Über der Wand neben der Tür hängen grüne Blätterranken herunter, Fotorechte: Christof Müller.
Ein Familienbild: Familie Müller vor den Toren von Schloss Schenna, Fotorechte: Christof Müller.

Schon früh hatten er und sein Bruder viel Verantwortung, da sie in ihrer Kindheit besser sehen konnten als ihre Eltern. Aber als Druck hat Christof Müller das nie empfunden. Er sagt, dass er kein Mitleid bekommen und so schon viel Eigenverantwortlichkeit gelernt habe. Genaus o vertraut er auch heute seinen Schüler*innen. Er möchte keine Assistenz in den Unterrichtsstunden, damit die Schüler einen geschützten Rahmen mit ihm haben und selber Verantwortung übernehmen. „Denn wenn sie die übernehmen“, so Müller, „dann ist das auch eine große Chance für sie.“
Die bewegende Lebensgeschichte der Müllers erzählt Jutta Hajek in „Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten“, erschienen im bene!-Verlag. Das Buch wurde von der Deutschen Katholischen Blindenbücherei außerdem auch als Hörbuch vertont und ist im Medibus-Netzwerk abrufbar.


Wir sprechen in unserem Podcast „SICHTBAR“ mit Menschen über Inklusion und Barrierefreiheit. Wir porträtieren Menschen mit Behinderung, weil wir mehr über ihr Leben, die Schwierigkeiten, aber vor allem auch die Möglichkeiten wissen möchten. Dabei sind wir jederzeit auch offen für Feedback zu neuen Interview-Gästen. Schreibt uns euer Feedback und Vorschläge gerne per Mail an sichtbar@hoermal-audio.org. SICHTBAR – Der Podcast wird von HörMal Audiodeskription in Kooperation mit dzb lesen herausgegeben.

Selbstverteidigung für Blinde: Marco Beyer im Kampf mit einem anderen Mann. Beide tragen schwarze Kampfanzüge und tragen schwarze Gürtel. Beyer hat kurze braune Haare und einen Chin-Strip-Bart. Mit einer ausladenden Armbewegung schiebt Marco den Arm seines Gegners beiseite, Bildrechte: Marco Beyer.

SICHTBAR-Podcast: Selbstverteidigung für Blinde mit Kampfkünstler Marco Beyer

Selbstverteidigung für Blinde: 
„Der Weg ist das Ziel.“

Marco Beyer ist mit 27 Jahren späterblindet, was ihn vor ganz neue Herausforderungen stellte. Der Selbstverteidigungssport Taidô Ryû Jû Jûtsu gab ihm die Möglichkeit, auch als Blinder seiner Leidenschaft, der Kampfkunst, nachzugehen. Um all die Erlebnisse zu verarbeiten, entschied er sich ein Buch zu schreiben, das seine Sicht auf die Welt der Sehenden zeigen soll. Antonia Lemke hat Marco für SICHTBAR – Der Podcast in seiner Heimatstadt Marburg getroffen.

Selbstverteidigung für Blinde: Marco Beyer im Kampf mit einem anderen Mann. Beide tragen schwarze Kampfanzüge und tragen schwarze Gürtel. Beyer hat kurze braune Haare und einen Chin-Strip-Bart. Mit einer ausladenden Armbewegung schiebt Marco den Arm seines Gegners beiseite, Bildrechte: Marco Beyer.
Gerne in Aktion: Marco Beyer in seiner Kampfschule. Dort trainiert er mehrmals in der Woche, Bildrechte: Marco Beyer.

Transkript zur Folge: Selbstverteidigung für Blinde (PDF)

„Die Blindenwelt ist nicht meine Welt.“

Marco Beyer hatte zwar schon von Geburt an eine starke Sehschwäche, aber er konnte lange Zeit, wie er selbst sagt, ein normales Leben führen. Mit ein bisschen Hilfe hat er die Schule und seine Ausbildung gemeistert. Obwohl ihm die Ärzte schon früh sagten, dass er einmal erblinden würde, wollte er das nicht wirklich wahrhaben und lebte sein Leben. Mit dem Beginn seiner ersten Ausbildung, bemerkte er langsam die Einschränkungen, die mit seiner Netzhauterkrankung einher gingen. Räumliches Sehen war für ihn nicht möglich und er musste seine Maurerausbildung gezwungenermaßen abbrechen. Seine zweite Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann konnte er zwar erfolgreich abschließen, aber lange blieb er nicht. Seine Einschränkungen wurden stärker, die Belastbarkeit seiner Augen auch mit Hilfsmitteln immer geringer. Mit 27 Jahren war seine Erblindung so weit Fortgeschritten, dass er berentet wurde: „Ich war irgendwann nach meiner Erblindung an einem Punkt, wo ich für mich selbst habe rausfinden müssen, ob das Leben weiter einen Sinn macht.“

Marco Beyer geht mit seinem Blindenführhund einen Schotterweg entlang. Links und rechts ragen Bäume und Büsche auf, Bildrechte: Marco Beyer.
Marcos treuester Begleiter ist heute sein Blindenhund Ringo. „Er ist mein Auge“, sagt der gebürtige Pfälzer. Gemeinsam laufen die beiden sogar Halbmarathon, Bildrechte: Marco Beyer.

„Viele Situationen, sind erstmal schwierig, aber man kann sie überwinden.“

Diese Lebensumstellung hat Marco Beyer vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Für ihn hieß es dann: Annehmen oder nicht. Er entschied sich zum Glück für Ersteres. Heute sagt er dazu schlicht: „Das Leben hat noch viele schöne Sachen zu bieten.“ Um seine Erfahrung zu verarbeiten, entschied er sich, alles aufzuschreiben. Dadurch entstand sein Buch: „The Blind Jiuka – Das Leben des Marco Beyer in der Welt der Sehenden“. Den Titel hat er ganz bewusst gewählt und sieht sich außen vor in dieser Welt, weil er viele Dinge macht, die von ihm nicht erwartet werden. Jiuka: ein Mensch, der eine Kampfkunst ausübt. Und das steckt auch dahinter. Er hat für alles in seinem Leben gekämpft und will anderen Blinden und Sehgeschädigten zeigen, dass nichts unmöglich ist. Ganz besonders möchte er aber die Sehenden ansprechen, ihnen vor Augen führen, dass die Welt auf sie ausgerichtet ist und Menschen mit Einschränkungen viele Dinge anders angehen müssen. Gleichzeitig will er in dieser ‚Welt der Sehenden‘ etwas verändern: mehr Akzeptanz, mehr Integration und Anpassung.

„Trotzdem eine gute Geschichte daraus machen“

Seine Leidenschaft zur Kampfkunst hat er schon von seinem Vater geerbt, doch das war mit seiner Erblindung nicht mehr umsetzbar. Er suchte nach einer neuen Möglichkeit. Selbstverteidigung war das Stichwort und mit seinem Umzug nach Marburg, fand er Taidô Ryû Jû Jûtsu. Eine Selbstverteidigungskunst, die auf Kontakt basiert. Er unterschrieb den Vertrag noch am gleichen Tag. Für ihn war das Besondere daran nicht nur, dass er diese Sportart problemlos durchführen konnte, sondern viele andere Menschen mit Einschränkungen auch. Die Sportart bedient sich sogenannten Hebeltechniken. Das bedeutet, man braucht keine Kraft und man kann auch als gehandicapter Mensch einen anderen kontrollieren. Ein weiterer Vorteil: Es tut zwar ziemlich weh, aber man verletzt niemanden ernsthaft. Und weil das so gut funktioniert, hat Marco Beyer es auch als erster Blinder in Marburg geschafft, den ersten Dan (schwarzer Gürtel) zu erlangen, und durfte vor zwei Jahren beginnen, andere in seiner Kampfschule zu unterrichten.

Marco Beyer steht hinter seinem liegenden Blindenhund. Er trägt einen schwarzen Kampfanzug. Im Hintergrund hängen Schwerter an der Wand, Bildrechte: Marco Beyer.
Auch zu Vorträgen oder Schultrainings sind Marco und sein Hund gemeinsam unterwegs, Bildrechte: Marco Beyer.

Dabei ist ihm ganz egal, wer zu seinem Training kommt. Marco schult nicht nur Selbstverteidigung für Blinde. Er will den Menschen zeigen, dass man vor seinen Einschränkungen nicht halt machen sollte und trotzdem Dinge ausprobiert und seine Ziele verfolgt: „Dass auch andere sehen, es gibt Menschen, die haben das Gleiche Problem und die haben trotzdem eine gute Geschichte draus gemacht.“

Mit dieser Motivation verfolgt Marco Beyer auch eine andere Beschäftigung. Er nennt sich selbst ‚Referent für Motivationstraining‘. Er gibt Kurse u.a. in Unternehmen und will damit ein weiteres Mal zeigen: Man kann aus einer schweren, herausfordernden Situation etwas Gutes machen. Das möchte er auch in Zukunft an Menschen, egal mit welcher Geschichte, weitergeben.


Wir sprechen in unserem Podcast „SICHTBAR“ mit Menschen über Inklusion und Barrierefreiheit. Wir porträtieren Menschen mit Behinderung, weil wir mehr über ihr Leben, die Schwierigkeiten, aber vor allem auch die Möglichkeiten wissen möchten. Dabei sind wir jederzeit auch offen für Feedback zu neuen Interview-Gästen. Schreibt uns euer Feedback und Vorschläge gerne per Mail an sichtbar@hoermal-audio.org. SICHTBAR – Der Podcast wird von HörMal Audiodeskription in Kooperation mit dzb lesen herausgegeben.